ADHS-Medikament: Ritalin laut Studie auch als Langzeittherapie unschädlich
ADHS-Medikament: Ritalin laut Studie auch als Langzeittherapie unschädlich
ADHS ist eine der häufigsten Entwicklungsstörungen weltweit. Oft wird Ritalin verschrieben. Doch was passiert bei einer längerfristigen Anwendung? Ein Gespräch mit dem Kinderpsychiater Professor Tobias Banaschewski.
Etwa sieben Prozent der Kinder und zwei Prozent der Erwachsenen haben eine Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung (ADHS). Unbehandelt geht ADHS unter anderem mit einem erhöhten Risiko für emotionale Probleme, schlechten schulischen Leistungen, Schulausschlüssen, Schwierigkeiten bei der Arbeit und in Beziehungen sowie Kriminalität und Drogenmissbrauch einher.
Das Medikament, das am häufigsten gegen ADHS eingesetzt wird, ist Ritalin. Die kurzfristige Wirksamkeit und Verträglichkeit von Ritalin wurde durch viele Studien belegt. Doch bislang gab es nur wenige Daten zur Sicherheit und Verträglichkeit einer langfristigen Behandlung. Eine neue Studie, die gerade veröffentlicht wurde, will diese Lücke schließen.
Ritalin soll auch längerfristig verträglich sein
Ralf Caspary, SWR2: Was zeigt Ihre Studie?
Professor Tobias Banaschewski, Zentralinstitut für Seelische Gesundheit Mannheim: Die Studie wurde auf Nachfrage der Europäischen Arzneimittelbehörde EMA durchgeführt, weil bislang kaum langfristige Daten vorlagen. Mit langfristigen Daten ist eine wirklich kontrollierte Studie über zwei Jahre gemeint.
Wir haben dann in der Studie an insgesamt 1400 Kindern und Jugendlichen untersucht, ob eine längerfristige Behandlung von bis zu zwei Jahren verträglich ist. Wir haben herausgefunden, dass die Methylphenidat Medikation - das ist der Wirkstoff des Medikaments Ritalin - sehr gut verträglich ist, dass also keine unbekannten Nebenwirkungen nach längerer Behandlungszeit auftreten.
Auswirkungen auf Puls, Blutdruck und Appetit
Tobias Banaschewski: Zu beobachten ist, dass der Puls und Blutdruck leicht ansteigt wenn man das Medikament nimmt. Dieser Anstieg ist durchschnittlich jedoch nur sehr gering. Allerdings kann man daraus nicht ableiten, dass das auch bei jedem einzelnen Patienten, der das Medikament nimmt, der Fall ist. Deshalb muss man Puls und Blutdruck auch regelmäßig kontrollieren.
Darüber hinaus gibt es bekannte Nebenwirkungen, dass bei bis zu zehn Prozent der Kinder und Jugendlichen der Appetit gemindert werden kann. Das muss nicht immer ein großes Problem sein, aber es kann auch ein Problem sein.
Kinder könnten in Zukunft längerfristig mit Ritalin behandelt werden
Ralf Caspary: Das heißt wenn also mein Kind ADHS hätte, könnte ich ihm unbedenklich zwei, drei Jahre lang Ritalin geben, aber es sollte immer ärztlich kontrolliert werden?
Tobias Banaschewski: Das ist die richtige Zusammenfassung, die wir auch in den deutschen Leitlinien abbilden, die wir derzeit überarbeiten. Es gab viel Sorge in der Öffentlichkeit, ob nicht doch auch psychiatrischen Nebenwirkungen, Veränderungen des Körperwachstums oder der Pubertätsentwicklung zu befürchten sein. Dafür gab es bisher keinen Anhalt. Aber wenn man es nicht genau untersucht hat, kann man das natürlich nicht sicher sagen.
Einsatz von Ritalin polarisiert
Ralf Caspary: Hat sich der Ruf von Ritalin verbessert?
Tobias Banaschewski: Insgesamt ja. Aber Ritalin ist eines der Medikamente, das am kontroversesten in der Öffentlichkeit diskutiert wurde. Es gibt die Annahme, diese Verhaltensauffälligkeiten liegen an der Spanne des Normalen, und würden mit Medikamenten weg therapiert. Und wenn die Kinder beispielsweise doch nur genügend Bewegung bekommen würden, hätten sie keine Probleme, und diese Behandlung sei nicht notwendig. Es gab sehr viele ideologische Debatten.
ADHS kann zur psychischen Last werden
Tobias Banaschewski: ADHS kann aber in ganz unterschiedlichem Schweregrad vorliegen. Und es kann wirklich zu erheblichen Beeinträchtigungen der Lebensqualität führen. Aber auch der psychosozialen Funktionsfähigkeit in der Schule, im Beruf, auch im Umgang mit Gleichaltrigen. Die emotionale Dysregulation spielt häufig bei Betroffenen eine Rolle.
Das liegt zum Teil daran, dass die Konzentrationsfähigkeit erheblich beeinträchtigt sein kann, aber auch die Impulskontrolle oder die emotionale Impulskontrolle können schlecht sein. Auch die Fähigkeit, sich dauerhaft zu motivieren, kann eingeschränkt sein - und all das trotz guter Intelligenz. Da kann man dann auch relativ gut nachvollziehen, dass es für einige der Betroffenen, bei denen eine schwere ADHS-Symptomatik vorliegt, dazu führt, dass das Selbstwertgefühl beeinträchtigt ist, auch trotz guter Intelligenz und so weiter.
Erste ausführliche längerfristige Studie
Ralf Caspary: Wenn das Medikament jetzt auch langfristig sicher ist, wie war das denn davor, als wir das noch nicht wussten?
Tobias Banaschewski: Das Medikament Ritalin wird seit den 60er-Jahren weltweit sehr viel eingesetzt und ist eines der am besten untersuchten Medikamente. Es gab über 180 randomisierte Studien und über 20 Meta-Analysen, die die Wirksamkeit und gute Verträglichkeit belegt haben, aber eben nicht über den langen Zeitraum und auch nicht so systematisch, wie wir es jetzt getan haben.
Man hat nicht wirklich konsequent Gruppen von nicht behandelten Kindern und Jugendlichen eingeschlossen, weil die meisten Menschen natürlich irgendwann auch Medikamente nehmen. Aber wir haben dafür Länder eingeschlossen, in denen die Versorgung schlechter ist.
Forschende hoffen auf bessere Ritalin-Verfügbarkeit
Ralf Caspary: Die WHO hat es bisher abgelehnt, Ritalin in die Liste der unentbehrlichen Arzneimittel aufzunehmen. Wird sich das jetzt ändern?
Tobias Banaschewski: Ja, wir hoffen sehr, dass unsere Ergebnisse dazu beitragen, die bestehenden Unsicherheiten, die innerhalb der WHO dazu geführt haben, Ritalin nicht in die Liste der essenziellen Medikamente aufzunehmen, aus dem Weg zu räumen.
Gerade Betroffene aus Ländern mit niedrigem oder mittlerem Einkommen haben wirklich wesentlich weniger Möglichkeiten, eine Behandlung für ADHS zu erhalten. Das ist dann häufig denen vorbehalten, die das privat bezahlen können. Und angesichts der bei schwerem ADHS vorliegenden Risiken sollte es möglich sein, dass auch Menschen aus anderen Ländern einen vernünftigen Zugang zu einer Behandlung erhalten.